«Nun sag schon!», bat sie. «Wohin gehen wir?»
Er lächelte. «Hab Geduld. Wenn ich es dir verrate, ist es doch keine Überraschung mehr.» Sie verdrehte die Augen. «Du weißt genau, wie ungeduldig ich bin, also spann mich nicht auf die Folter.» Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, vorbei an von den Jahrhunderten glattgeschliffenen Felsen. Nur in einige wenigen Unebenheiten klammerten sich robuste Moose und Flechten. Ganz anders auf dem Waldboden, der von dicken Baumwurzeln überzogen war, auf welchen sie teilweise balancieren mussten, so dicht waren sie miteinander verwoben. Erdiger Geruch stieg auf, nach Fäulnis und verrottendem Laub. Sie genoss den Duft, denn selbst wenn er aus den sich zersetzenden organischen Stoffen entstand, bedeutete er doch Leben für sie. Leben, das in dem, was die Natur hergab, neu entstand. Ihr Fuß glitt auf den dicht mit schmarotzenden Pflanzen überwucherten Wurzel ab, doch er hielt sie fest und bewahrte sie davor abzurutschen. «Vorsicht! Nicht, dass ich dich zurücktragen muss. »Sie nickte, hielt kurz inne und warf einen Blick empor zu dem weit über ihnen aufragenden Blätterdach. Die Bäume waren hier noch höher, als in ihrem Dorf aus dem sie stammte und dessen Umgebung. Den halben Tag waren sie bereits unterwegs, doch sie sorgte sich nicht, denn die Wälder waren friedlich und gaben ihnen nur, was sie zum Leben benötigten. Gefahr verhießen sie hingegen nicht. «Wie weit ist es noch?», versuchte sie erneut ihr Glück. «Wir sind gleich da», erklärte er. «Hinter den Felsen ist es.» «Du wirst es nicht verraten, bevor ich es sehe, oder?» Er grinste sie an und zwinkerte. «Nein.» Sie schlängelten sich zwischen einigen dichtstehenden, hochaufragenden Brocken hindurch, bis er stehen blieb und ihr in die Augen schaute. «Erinnerst du dich an die Geschichten über die Hüterin des Waldes?», fragte er. «Wie könnte ich die vergessen? Schließlich haben wir sie jeden Tag zu hören bekommen, seit wir Kinder waren. Warum fragst du?» Er zog sie um eine letzte, weit hervorstehende Felsnase herum. «Deshalb!», deutete er auf eine sich öffnende freie Fläche. Mit vor Erstaunen weit geöffnetem Mund blieb sie stehen und starrte sprachlos auf das Bild, das sich ihr bot. Ein Bild, das sie nicht kannte. Strahlen voll Helligkeit beleuchteten den Bereich oberhalb eines über dem Untergrund schwebenden Nebels, der sich aus dem Waldboden erhob. Dort, wo einer der gewaltigen Bäume hätte stehen müssen, unter dessen Dach sie lebten, erhob sich ein bläulich schimmernder Felsen, der wirkte, als sein er von oben herab gespalten worden. In seinem Inneren verharrte eine riesenhafte Gestalt, eine Hand wie zur Abwehr erhoben und gen Blätterdach gerichtet.
Oder besser gesagt dorthin, wo das Blätterdach hätte sein sollen, denn zu ihrem Entsetzen befand sich dort keines. Stattdessen spannte sich dort ein helles Blau, so grell, dass sie am liebsten die Augen zugekniffen hätte. Sie hob die Hand in der gleichen Geste, wie die steinerne Gestalt.
«Was ist das für ein Ort und was ist hier geschehen?», fragte sie beinahe tonlos. «Dies ist die Hüterin des Waldes oder zumindest war sie es einmal. Die Ältesten haben mich ausgewählt, sie dir zu zeigen, jetzt wo du das richtige Alter erreicht hast.» Sie sah ihn ratlos an.
«Du erinnerst dich, dass die Hüterin laut der Überlieferung irgendwann verschwunden ist. Anfangs dachten unsere Vorfahren, sie hätte uns verlassen. Doch das stimmte nicht.
Etwas ist hier geschehen. Das Dach des Waldes wurde durchbrochen. Es wird vermutet, dass die Hüterin ihrem Wald zur Hilfe eilte. Doch als sie in das helle Licht trat, dass sie nie zuvor auf ihrer Haut spürte, ist sie mitsamt ihrer sie umgebenden Aura erstarrt und zu Stein geworden.» Er ließ ihr ein wenig Zeit, bevor er fortfuhr. «Komm, wir gehen näher heran.» Sie sträubte sich. «Wird uns das Licht nicht auch zu Stein werden lassen?»
«Nein, es wärmt dich und spendet dir Energie, wie du sie nie zuvor gekannt hast.»

Die Hüterin des Waldes
Olaf Raack
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Kapitel-Anzahl: 12
Lesezeit: 2 Std. 4 Min.
Kategorie: Abenteuer Fantasy Gemeinfrei Klassiker Legenden Märchen