Erst vor kurzem war die Sonne über den Horizont gekrochen. Jetzt verlieh sie den wenigen Wolken, die behäbig über den Himmel zogen, den rötlichen Glanz, der einen schönen Tag verhieß. Ob ihn hingegen Schönheit erwarten würde, wagte er zu bezweifeln. Bereits am vergangenen Abend hatte er sein Zwischenziel erreicht – die gebrochene Sichel. Einen Wegpunkt auf seinem Pilgerpfad zu der Kathedrale der Vergessenen, die sich im Licht des frühen Tages ausnehmend friedlich zeigte. In lichtes Grau getaucht lag sie da, den Gerüchten über das was sich darin verbarg nicht gerecht werdend.
Rasch erfrischte er sich in einem plätschernden Rinnsal, das sich durch das Sichelportal ergoss. Dahinter schloss es sich mit weitaus ergiebigeren Wasserläufen zusammen, um in einem mäandernden Delta in den Kathedralsee zu fließen. Diese Gewässer trennten ihn von seinem Ziel. Es galt einen Weg drumherum zu finden oder den Geschichten um den einsamen Fischer an dessen Ufer Glauben zu schenken, der angeblich die wenigen verirrten Reisenden in seinem löchrigen Kahn übersetzte.
Er streckte müde seine schmerzenden Glieder. Die Nächte auf dem unebenen Waldboden setzten ihm zu. Seine Oberschenkelinnenseiten waren wund gelaufen. Das hatte selbst das vielgepriesene Hirschtalgfett der hutzeligen Heilerin nicht verhindern können. Dabei schmierte er die stinkende Paste seit Reisebeginn auf entsprechende Stellen. Die Romantik der Pilgerreise war schneller verflogen, als ihm lieb war. Bereits nach der ersten Nacht sehnte er sich nach einem Bett und einem Bottich, um sich den säuerlich fettigen Hirschgeruch abzuwaschen.
Anfangs ließ ihn die Scham, bereits so früh aufgeben zu wollen, weiterlaufen. Später kamen Trotz und Hoffnung dazu. Hoffnung, den Weg zu beenden und der Bruderschaft der Vergessenen anzugehören. Selbst wenn er der Meinung war, dass es wahrhaftiger Blödsinn war, durch das halbe Reich zu reisen, um die Essenz eines Vergessenen aus dessen verwesendem Leib zu prügeln, nur um diese als Eintrittskarte in die Bruderschaft wieder abzugeben.
Dabei wusste er nicht einmal, was die Bruderschaft ihm danach bieten würde. Sicherheit? Nahrung? Unterkunft? Er hatte keine Ahnung. Gab es die Bruderschaft überhaupt? Das hatte der Kerl in der Spelunke zumindest behauptet. Ein zwielichtiger Kerl, wie er sich mit etwas Abstand und einem nüchternen Kopf eingestand. Der Ort für die Übergabe der Essenz existierte immerhin, das wenigstens hatte er geprüft. Er seufzte und rief sich ins Bewusstsein, wie groß seine Verzweiflung war, dass er sich jetzt hier aufhielt. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, sich auf dieses Wagnis einzulassen? Die Antwort lag auf der Hand. Er war ein niemand und sehnte sich nach Zugehörigkeit und Anerkennung.
Ein Knacken in den Büschen ließ ihn seinen Gedanken unterbrechen und herumfahren. Wie selbstverständlich fuhr seine Hand zum Griff seiner Klinge.
Er lachte auf. «Ein verdammter Hase! Und ich füge fast ein weitere Duftnote zum Hirschtalg.»
Dennoch ergriff ihn ein Gefühl der Beklommenheit und er entschied sich dazu, den Präsentierteller, auf dem er sich hier oben beim geborstenen Portal für alle sichtbar exponierte, zu verlassen. Ein aufkommender Wind sandte ihm kühle Luft vom See aus entgegen. Oder kam er von der Kathedrale? Ein erster Gruß der Vergessenen? Ein Frösteln lief durch seinen Körper und er entrollte seinen Kapuzenmantel, den er sich rasch überwarf. Seinen Köcher schlang er sich um, den Bogen hängte er über seine Schulter. Er wagte einen bangen Blick auf sein Ziel, das unverändert drohend auf der anderen Seite des Sees lag. Eilig verließ er den Ort und suchte sich einen Pfad, um in das Flussdelta hinabzusteigen.
Der Abstieg erwies sich als durchaus anspruchsvoll. Mehrmals kam er ins Straucheln und rutschte auf losem Gestein aus. Dennoch erreichte er die Ebene, in welcher der Kathedralsee lag, noch bevor die Sonne im Zenit stand. Falls ihm das Gelände nicht zu viele Steine, oder besser gesagt Flussarme, in den Weg legte, dann würde er bis zum Abend das Ufer des Sees erreichen und womöglich sogar den ominösen Fischer aufspüren.
Schmatzend löste sich sein Stiefel aus dem feuchten saugenden Untergrund. Langstieliges, hellbraunes Gras streifte um seine Beine.
«Keine einladende Gegend», stellte er fest. Von der gebrochenen Sichel aus betrachtet, hatte die von der Morgensonne beschienene Landschaft freundlicher gewirkt. «Lebendiger», wie er mit einem Blick auf eines der zahllosen abgestorbenen Baumskelette überlegte.
Kühler, herbstlich nasser Wind strich ihm vom See her entgegen, bog die Halme und ließ sie unrhythmisch wippen. Er hielt inne. War da ein Geräusch gewesen? Eines, das nicht in diese morastige Natur des Deltas passte? Doch, da war etwas. Sofort zog er den Kopf zwischen die Schultern und nahm eine leicht geduckte Haltung ein. Ohne einen bewussten Gedanken lag sein Schwert in seiner Hand. Er schluckte trocken. Sollte er sich einen anderen Weg suchen? Gab es den überhaupt? Bislang hatte ihm die Natur diesen Pfad vorgegeben, geleitet von tiefem Geläuf oder breiten Flussarmen, die träge und trübe dahinflossen.
Oder wäre es besser, gleich ganz umzukehren? Mit eingezogenem Schwanz zurückzulaufen? Keiner Bruderschaft anzugehören und wieder dort zu landen, wo er herkam? Wegen eines wagen Geräusches? Verächtlich schüttelte er den Kopf über seine eigene Furcht, die ihn scheuen ließ, wie einen verängstigten Gaul vor einem Feuer.
«Ich ziehe das durch, komme was wolle!», beschwor er sich selber den nötigen Mut herauf. Entschlossen, wenn auch mit weichen Knien, setzte er seinen Weg fort. Die Klinge steckte er nicht wieder weg, ebenso wenig, wie er die geduckte Haltung aufgab. Behutsam schlicht er voran.
Jede Windböe trug die Geräusche mit sich. Anfangs wie ein Wispern, dann immer deutlicher und konstanter. Bald war er sicher, dass es sich um Stimmen und das Klappern von metallischen Gegenständen handelte.
Immer wieder nach Deckung zwischen den knorrigen, morschen Stämmen suchend schlich er weiter. Das Saugen des Schlammes und das Rascheln des Grases erschienen ihm brüllend laut, bis ihm bewusst wurde, dass der Wind seine Geräusche davontrug und nicht etwa in Richtung derer, auf die er sich zubewegte.
Er schnüffelte. Neben den Geräuschen lag nun gleichfalls der Geruch nach Rauch in der Luft. Und der von gekochtem und gewürztem Essen. Unvermittelt knurrte sein Magen, dem er seit einiger Zeit nichts mehr zur Beschäftigung zugeworfen hatte.
Er hörte Männer lachen. Rau und derb klangen die Stimmen. Nur kurz darauf erblickte er die feine Rauchfahne, die in seine Richtung verwirbelt wurde. Er linste zwischen zwei eng beieinanderstehenden Bäumen hindurch. Am Ufer eines schmalen Baches machte er flache Zelte aus. Typische Einmannzelte, ideal für die Wildnis, weil sie leicht und schnell aufzurichten waren. Dazwischen hockten Gerüstete an einem Feuer. Sie lachten und redeten, als fühlten sie sich vollkommen sicher. Ein Banner flatterte ihm Wind, doch er konnte das Wappen von hier aus nicht erkennen.
Tief geduckt schlich er weiter heran, bis er das Symbol erkannte. Es war ein rudimentäres Abbild der Kathedrale. War dies die Bruderschaft der Vergessenen? Aber warum waren sie hier? Würde er die Kathedrale am Ende gar nicht betreten müssen, sondern bereits hier seine Aufgabe erfüllt haben? Das musste es sein! Sie waren hier, um ihn in ihrer Mitte aufzunehmen. Der Weg ist das Ziel, hieß es doch. Erleichterung breitete sich in ihm aus und er richtete sich auf, um seine neuen Brüder auf sich aufmerksam zu machen. Diese lachten, als sie ihn sahen und grüßten zurück. Er grinste breit und ging auf sie zu.
Fast hätte er das Rascheln des Grases in seinem Rücken überhört. Er drehte sich um. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper. Vor ihm stand der Kerl aus der Spelunke, der ihn auf den Weg zur Kathedrale geschickt hatte. Und sein Schwert steckte tief in seinem Bauch. Seine Sinne begannen zu schwinden.
«Nicht schlecht!», rief einer der Männer vom anderen Ufer. «Schon der Vierte! Wo findest du bloß immer diese leichtgläubigen Trottel?»

Die Bruderschaft
Olaf Raack
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Kapitel-Anzahl: 5
Lesezeit: 12 Min.
Kategorie: Abenteuer Gemeinfrei Klassiker
1 Kommentar
2. Dezember 2021 um 23:22 Uhr
Eine schöne Geschichte zum Vorlesen. Habe sie meiner besten Freundin zum Einschlafen vorgelesen und sie ist wirklich gut eingeschlafen.