Die Farne wucherten zunehmend üppiger. Reisig, dicke Äste und entwurzelte Bäume behinderten seinen Weg. Hier kam niemand her, um den Waldboden nach Feuerholz abzusuchen. Die letzten Anzeichen von Zivilisation lagen weit hinter ihm und die speckige Landkarte, die er erworben und nach Informationen der nächstlebenden Anwohner erweitert hatte, konnte ihm schon längst nicht mehr helfen. Er befand sich mitten im unberührten Leder, die nächsten Linien bereits über eine Handspanne
entfernt. Ihm war klar, dass es nicht leicht würde. «Das ist es nie, wenn man einer Legende nachjagt», rief er sich in Erinnerung, während er über den Stamm einer vermodernden Birke kletterte, deren gescheckte Rinde großflächig rundherum verteilt lag. Die Insekten, die sich unter der Rinde im morschen Holz einnisteten, lockten beständig kleine Jäger und Vögel an, welche die Schutzschicht abschälten und sich ein Festmahl auf Kosten
derer gönnten, die sich dort in vermeintlicher Sicherheit wähnten.
Sein Magen knurrte. Wenn selbst die Fressgelüste der Tiere auf Insekten seinen Appetit anregten, war es an der Zeit, diesem Bedürfnis nachzugeben. Selbst wenn das Brot hart war und der Käse auf der Zunge brannte, es füllte den Magen und gab ihm neue Energie.
Vor etwa vier Jahren war ihm die erste Geschichte über einen Schatz zu Ohren gekommen. In einer Höhle hinter dem Kotzenden Schädel. Während andere über den Namen lachten, malte er sich bereits aus, wie dieser Ort aussehen mochte. War er natürlichen Ursprungs oder von Menschenhand erbaut? War letztlich gar eines der alten Völker daran beteiligt? Es dauerte lange, bis er das Gebiet einzugrenzen vermochte. Dort, wo die Geschichte bei den Bewohnern vermehrt bekannt war, begann er seine Suche, kreiste das Areal nach und nach ein, erstellte eine Karte, die er mit der Zeit ergänzte. Bis auf die Mitte füllte sich das Leder, und genau durch dieses Zentrum seiner Aufzeichnungen bewegte er sich jetzt. Immer wieder blieb er stehen und lauschte gebannt, ob er ein fernes Rauschen erahnen konnte, dass ihn zu seinem Ziel leitete. Als er es endlich vernahm, konnte er sein Glück
kaum fassen. Er würde das, was sich hinter dem Schleier des Wasserfalls lag bergen. Er sah die mannigfaltigen Reichtümer vor sich, die er aus dem Wald schleppte. Sie würden ihm ein sorgenfreies Leben verschaffen. Seine Schritte beschleunigten von ganz alleine, erfüllt von einer lang nicht da gewesenen Leichtigkeit, die ihn beschwingten Schrittes führte. Das Rauschen nahm zu und bald lag der Geruch von Wasser in der Luft. Frisch und klar ließ es ihm die Spucke im Munde zusammenlaufen. Feiner Sprühnebel legte sich auf sein Gesicht und benetzte den Waldboden. Er mahnte sich zur Vorsicht, denn er beabsichtigte nicht, sich das Genick so kurz vor dem Ziel zu brechen, weil er in seiner Hast auf einem von Moos überzogenen Stein ausglitt. Der Wald zeigte sich lichter, das Rauschen wurde immer lauter und schließlich schälte sich ein Teich zwischen den Bäumen hervor, in den tosend das Wasser herabstürzte. Doch das wirklich Beeindruckende war der gewaltige Schädel, aus dessen Kiefer sich das Nass in die Tiefe ergoss. Mit offenem Mund starrte er ihn an, und sah diesem vermutlich recht ähnlich. Der Schädel erschien im nicht aus dem Fels geschnitten worden zu sein. Er wirkte so, als hätte er irgendwann einmal auf gewaltigen Schultern gesessen. Doch wer hatte ihn hier platziert? Und was für eine Spezies besaß derart gewaltige Körper?
Behutsam umrundete er das Wasserbecken, suchte sich eine zugängliche Stelle und stillte seinen Durst mit dem kühlen Wasser. Den Schädel ließ er dabei nicht aus den Augen, ebenso wenig wie der Schädel ihn, denn er gewann das unangenehme Gefühl,
die leeren Höhlen verfolgten seine Schritte. Ein Gefühl der Beklommenheit machte sich in ihm breit. Wenn er nicht aufpasste, würde diese sich in Angst wandeln und die war kein guter Berater, vor allem, wenn man sich mehrere Tagesmärsche von den nächsten Ansiedlungen entfernt aufhielt. Der Wasserfall lag dicht vor ihm. Seine Kleidung klebte vom Spritzwasser durchnässt
auf seiner Haut und jagte ihm einen kalten Schauer über den Körper. Er suchte einen Weg, auf dem er hinter die tosenden Wassermassen gelangen könnte, doch es stürzte zu nah am Fels herab, um einen halbwegs trockenen Pfad zu bieten. Es blieb ihm nur der Weg mitten hindurch. Er legte sein Reisegepäck hinter einen Felsbrocken, in dessen Schatten es einigermaßen trocken war und stieg langsam in das kalte Wasser. Kam es ihm beim Trinken noch erfrischend vor, so versetzte es ihm nun eisige Nadelstiche unter die Haut. Klappernd stand er vor dem Wasserfall und wappnete sich, diesen zu durchschreiten. Er trat einen weiteren Schritt nach vorne. Erste Tropfen klatschten ihm auf Gesicht und Schultern. «Was führt dich an diesen Ort?» Die Stimme floss inmitten des Wassers um ihn herum. Vor Schreck wäre er beinahe gestürzt und konnte sich nur gerade eben auf den Beinen halten. «Was? Wer?» «Was führt dich an diesen Ort?», wiederholte die Stimme. Selbst wenn er hätte lügen wollen, es wäre ihm nicht gelungen. «Ich suche den Schatz.» «Wer den Weg zu mir findet, erhält ihn», rollte die Stimme mit den Wassertropfen über seine Haut. «Tritt in das Wasser und empfange die Weisheit.» «Weisheit?», echote er fassungslos. «Das soll der Schatz sein?» «Tritt in das Wasser.» Er hätte heulen können. Weisheit? Was sollte ihm das bringen? Weisheit konnte man weder essen, noch sich etwas davon kaufen. Dennoch trat er vor, selbst wenn er am liebsten laut geschrien hätte. Wasser umspülte ihn, prasselte mit Macht auf seinen Schultern und zwang in fast in die Knie, doch er stemmte sich dagegen. Was nun? War es das? Gleißendes Weiß umfing ihn, ließ alle Konturen verschwimmen und durchflutete ihn mit dem gesammelten Wissen der Zeit. Die Erkenntnisse überschwemmten ihn und brachten seinen Verstand beinahe zum Schmelzen. Als er das Becken verließ, war jeglich materieller Bedarf von ihm abgefallen, denn er wusste nun um den wahren Wert des Lebens.

Der Schädel
Olaf Raack
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