Verzweifelt hob er den Blick. Kaskaden schillernden Wassers stürzten sich, Myriaden von feinen Sprühnebeltropfen in die Luft entlassend, die Hänge vom Plateau des ewigen Wassers hinab in das grüne Tal. Meilenweit erstreckte sich der jähe Abbruch vor ihm,
doch nur auf einer Meile war es dem Wasser gelungen, den Fels zu überspülen und sich, begleitet von einem Tosen und Grollen, der Tiefe entgegenzuwerfen. Der stete Strom brach nie ab, schwankte nicht in der Menge des herabstürzenden Wassers, sondern versorgte das Tal seit jeher zuverlässig mit Wasser. All die Gehöfte, Weiher, Dörfer, Ansiedlungen und Städte, die in den vergangenen Jahrhunderten an den weit verzweigten Wasserläufen hinter den Kristallfällen aus dem Boden geschossen waren, um sich die lebensspendende Energie der Flüsse zu Nutze zu machen, existierten nur seinetwegen.
Die zahllosen Menschen, deren Lebensgrundlage ihren Ursprung an genau diesem Punkt nahm, siedelten hier, weil das Wasser sie mit allem versorgte, was sie benötigten. Anhand der Ländereien weit abseits der Flüsse und Bäche, ließ sich erahnen, wie es vor dem Auftauchen des Wassers ausgesehen haben mochte. Karg, unfruchtbar und lebensfeindlich. Er haderte mit sich, mit seinem Orden und seiner Aufgabe. Nie hätte er erwartet, dass seine Obrigkeiten etwas Derartiges von ihm verlangten. Wäre es ihm bewusst gewesen, so hätte er sich der geheimen Bruderschaft niemals angeschlossen. Ihrem Credo nach war es ihre von den Göttern gegebene Aufgabe, das Gleichgewicht zu wahren. Ein
schöner Gedanke, der ihn letztlich dazu bewogen hatte, sich dem Aufnahmeritual und dem jahrelangen Studium hinzugeben. Sein Verständnis von Gleichgewicht richtete sich auf das Auffinden und Ausgleichen von Machtverschiebungen und der Regulation der
Werte und Normen, denen die Bevölkerung unterlag. Doch dies? Wie sollte er dereinst vor seine Götter treten und ihnen eine plausible Erklärung für das liefern, was der Orden ihm abverlangte? Und wie könnte es ihm im Vorwege gelingen, mit dieser Schuld, die er auf sich zu laden ausgesandt worden war, zu leben? Es gab keine Antworten auf diese Fragen.
Er folgte dem gewundenen Pfad hinab in Richtung der Wälder, um diese in Richtung der Abbruchkante zu durchqueren. Eine in Stein geschlagenen Treppe würde ihn von dort aus auf das Plateau des ewigen Wassers führen, zu der Stelle, an der sich die Wassermassen einer Walze gleich über die Felskante stürzten.
Seine Gewissensbisse nahmen zu, während er die Last seiner unter der Kutte mitgeführten Fracht immer schwerer wahrnahm. Sie zerrte an ihm, an seiner Standhaftigkeit, die bislang über jeden Zweifel erhaben gewesen war. Oben angekommen stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Die Anstrengung des Aufstieges und seine innere Qual pressten die salzige Flüssigkeit unaufhaltsam aus seinen Poren. Der grobe Stoff seiner Robe zeigte sich benetzt von feinen Wasserperlen, die allgegenwärtig in der Luft schwebten.
Hier oben glitzerte die Sonne auf dem klaren Wasser. Ein endloser Ozean breitete sich vor ihm aus. Die Quelle allen Lebens im grünen Tal. Er schluckte schwer und fischte die kleine gläserne Phiole aus der innen eingenähten Tasche seiner Robe. Er betrachtet die
trübgraue Flüssigkeit, die sie enthielt. Undurchsichtig und matt schwappte sie darin und schien das Licht der Sonne zu absorbieren.
Wie vermochte dieser winzige Schluck, gemessen an den unüberschaubaren Wassermassen, einen derartigen Effekt erzielen? Doch an der Wirksamkeit des Trankes hatten die Alchemisten des Ordens keinen Zweifel aufkommen lassen. Rasend schnell würde sich die Substanz mit dem Wasser vermengen, es verderben, hinabstürzen und jegliches Leben das mit dem Gemisch in Berührung kam auslöschen. Er schloss die Augen und drängte jeden aufkeimenden Zweifel in sich zurück. Es war seine Pflicht vor den Göttern. Er zog den Korken mit einem leisen Plopp aus der Phiole, atmete tief durch und setzte sie entschlossen an die Lippen.
