An diesem Sommertag durchbrach ein kräftiges Rot das strahlende Blau des Himmels, flog seine Kreise und setzte sich sanft und ganz ohne Hast auf einen Zaun. Winzige schwarze Knopfaugen betrachteten einen Jungen, der vor dem Zaun stand und fasziniert zu dem Geschöpf hinauf sah, das ihn so interessiert musterte. „Du bist ein Rotkehlchen.“, sagte der Junge und in seinen kindlichen Zügen zeichnete sich eine Begeisterung ab, die man auf erwachsenen Gesichtern kaum noch entdecken konnte.
„Ja.“, antwortete das Rotkehlen zwitschernd und nickte bedächtig mit seinem braunen Köpfchen. „Woher kommst du?“, fragte der Junge neugierig und spielte gedankenverloren am Saum seines
bunten T-Shirts. „Von einem Ort, an dem es sehr schön ist.“, antwortete ihm das Rotkehlchen freundlich, woraufhin der Junge nachdenklich die Stirn runzelte. „Wo ist dieser Ort?“ fragte der Junge und das Rotkehlchen flatterte kurz mit seinen kräftigen Flügeln auf. „Ist das wichtig?“, fragte es erstaunt und der Junge überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Ja. Du musst doch wissen wie du wieder dorthin zurück findest.“ Das Rotkehlchen zwitscherte leise, und es klang beinahe, als würde es lachen.
„Aber ich brauche doch nicht zu wissen wo dieser Ort ist, um ihn zu finden.“, sagte es amüsiert und der Junge legte seine Stirn unter dem blonden Haarschopf erneut in Falten. „Wie findest du dann diesen Ort?“ Wieder zwitscherte das Rotkehlchen leise.
„Mit meinem Herzen.“, antwortete es schlicht, was den Jungen noch mehr zum Grübeln brachte. „Bestimmt weißt du aber wie dieser schöne Ort heißt, oder?“, fragte der Junge und ging einen
kleinen Schritt auf den Zaun zu, auf dem der kleine Vogel mit der roten Brust saß, und ihn ruhig mit seinen klugen Augen betrachtete. „Nein. Dieser Ort hat keinen Namen.“, antwortete das Rotkehlchen schließlich, woraufhin der Junge es mit großen Augen ansah. „Aber wenn du nicht weißt wo dieser Ort ist, oder wie er heißt, wie erzählst du dann deinen Freunden davon?“
Das kleine Rotkehlchen blinzelte verwundert. „Wieso sollte ich meinen Freunden davon erzählen?“, fragte es und war sichtlich an der Erklärung des Jungen interessiert. Ganz so, als erschließe sich ihm der Grund dieser Frage tatsächlich nicht. „Damit sie auch dort hin können.“, antwortete wiederum der Junge, als läge diese Antwort klar auf der Hand. „Die, die ich meine Freunde nenne, kennen doch mein Herz.“, antwortete das Rotkehlchen. „Also wissen sie auch wo man diesen Ort findet.“, fügte es hinzu und legte den Kopf etwas schief. Der Junge dachte über die Worte des Rotkehlchens nach, während ein warmer Sommerwind durch die Gräser und die Blätter der umliegenden Eichen raschelte, und die Federn des Vogels und die Haare des Jungen gleichermaßen sanft zerzauste. „Könntest du mir nicht einfach erklären, wo dieser Ort ist?“, fragte der Junge schließlich und in seinem Gesicht leuchtete erneut eine unbändige Begeisterung auf. Das Rotkehlchen neigte erneut den Kopf leicht zur Seite und blickte den Jungen so lange an, ohne etwas zu erwidern, dass dieser bereits ungeduldig von einem Bein auf das andere trat. „Ich könnte dich einfach einfangen. Wenn du lange genug bei mir bist, wirst du irgendwann vielleicht mein Freund, und musst es mir verraten.“, durchbrach der Junge mit seiner glockenhellen Stimme die beruhigenden Geräusche der Natur. Der Junge klang nicht böse, und er meinte es wohl auch kaum so. Er wusste es nicht besser, was wohl auch das Rotkehlchen zu wissen schien, das weiterhin ruhig und offenbar ohne Furcht auf seinem Platz saß und zu dem Jungen hinunter blickte. „Vielleicht wäre ich tatsächlich irgendwann dein Freund.“, sagte das Rotkehlchen nachdenklich. „Wenn du mich fängst, dann hätte ich ja nur noch dich.“ Der Junge strahlte. „Das wäre doch wunderbar.“, rief er aus. „Und wenn du dann mein Freund bist, kann ich auch diesen wunderschönen Ort sehen.“ Das Rotkehlchen warf einen kurzen Blick in die Weiten des endlosen Himmels über ihm, als würde es all seine Schönheit in sich aufnehmen wollen, bevor es sich gleich schwungvoll wieder in die Lüfte erhob.Aber es flog nicht davon, sondern wandte sich nach einem Moment des Schweigens wieder dem Jungen zu. „Wenn du mich fängst, wirst du aber niemals wirklich mein Herz kennen.“, sagte das Rotkehlchen ernst und wurde langsam unruhig. Nervös hüpfte es zwischen den Zaunpfählen hin und her, während es seinen Blick immer noch wachsam auf den Jungen geheftet hatte.
Plötzlich breitete es seine Flügel aus und der Junge, der erkannte was es vorhatte, hob erschrocken seine Hand.„Bitte.“, rief er.
„Bitte flieg nicht weg. Ich werde dich nicht fangen. Ich will doch bloß wissen, wie ich diesen Ort finde, der so wunderschön ist.“, erklärte er traurig und das Rotkehlchen hielt in seiner Bewegung inne, bevor es die Flügel wieder eng an seinen Körper legte.
Der Junge sah wie die grelle Brust des kleines Vogels sich immer wieder rhythmisch senkte und hob, während es ihn unsicher musterte und gründlich zu bedenken schien, ob und was es ihm antworten sollte. „Dann lerne mich kennen.“, begann das Rotkehlchen. „Lerne, dass ich frei bin und niemandem gehöre.
Lerne, dass auch du frei bist und niemandem außer dir selbst gehörst.Lerne zu sehen, ohne deine Augen zu benutzen. Sehe in die Herzen anderer, und in das deine. Lerne, dass sich die schönsten Dinge auf dieser Welt nicht besitzen lassen, und dass sie zu dir kommen, wenn du ihre Schönheit zu erkennen vermagst.
Wenn du begreifst, dass Schönheit im Auge des Betachters liegt,
dann wirst auch du diesen einen Ort finden. Den Ort, der für dich der schönste ist, und den deine wahren Freunde auch ohne eine Beschreibung oder einen Namen kennen werden.“ Der Junge blickte stumm zu dem kleinen Rotkehlchen auf dem Gartenzaun, das alles gesagt zu haben schien, was seiner Meinung nach gesagt werden musste. Langsam breitete es wieder seine Flügel aus und streckte stolz die rote Brust hervor, bevor es sich
mit einigen kräftigen Flügelschlägen vom Zaun stieß und sanft gleitend in die Lüfte erhob. Der Junge beobachtete wie das Rotkehlchen über das satte Grün der Bäume und über das kräftige
Gelb der blühenden Rapsfelder hinweg flog, und blickte dem winzige Geschöpf so lange hinterher, bis es irgendwann am Horizont verschwunden war und vermutlich gerade an einem Ort ankam, wo sein Herz es sicher hingeführt hatte.

3 Kommentare
18. Oktober 2021 um 23:12 Uhr
Das kann ich nur bestätigen.
Wundervoll 🙂
Ich habe sie auch meiner Freundin vorgelesen und sie fand sie auch schön.
21. September 2021 um 23:08 Uhr
Wundervoll geschrieben; ich habe sie meiner Freundin vorgelesen, die zu Tränen gerührt war – aber inhaltlich verstanden hat. Toll. Warum kann man heute unseren Kndern, unserer Jugend inhaltlich so etwas nicht näher bringen? Da wird doch die Freiheit propagiert…. Weinen könnt ich! Weinen!
16. Juli 2021 um 0:43 Uhr
Eine wundervolle Geschichte.
Habe sie einmal meiner Freundin vorgelesen und nun meiner Tochter.